Dear Traveller [EN] // Liebe Reisende [DE] -> Ausstellungstext von Eline Kersten

Dear Traveller [EN] // Liebe Reisende [DE] -> Ausstellungstext von Eline Kersten

Übersetzt aus dem Englischen: ein Ausstellungstext von Eline Kersten, Oktober 2023


Dear Traveller ist der Titel des Ausstellungstextes, der von Eline Kersten in Form von 20 Postkarten über den Ausstellungszeitraum nacheinander an die ANTHROPOZÄNTA geschickt wurde. Zusätzlich wurde die deutsche Übersetzung des Textes als Laufschrift über dem Eingang des ehemaligen Thomas Cook Reisebüros angezeigt, welches nun als Ausstellungsort für die Anthropozänta 2023 dient.

Liebe Reisende,

ich empfehle Ihnen leichtes Gepäck. Die Reise ist nicht sehr lang, aber ich rate Ihnen, bequeme Kleidung zu tragen und eine Flasche Wasser bereitzuhalten, denn Sie könnten sich eine Weile an diesem Ort aufhalten. Ihr Telefon und Ihre Smartwatch abzulegen, wird Ihre persönliche Erfahrung ebenfalls verbessern. Ich möchte nur die besten Bedingungen für Ihre Reise schaffen: Zeit spielt dabei keine Rolle. Als nächstes möchte ich Ihre Aufmerksamkeit auf das Hier und Jetzt lenken. Gedanken an Einkaufslisten, den leichten Schmerz im Rücken und E-Mails, die geschrieben werden müssten, können Sie jetzt ad acta legen – alles, was mit der Zukunft oder der Vergangenheit zu tun hat, ist sinnlos und könnte diese Tour entgleisen lassen.

Reisebüros verkaufen Abbildungen von Glückseligkeit. In sorgfältig zusammengestellten Prospekten wird diese Form des Glücks oft durch leuchtende Bilder von einsamen Stränden und Palmen, begleitet von azurblauem Meer, dargestellt. Es braucht nicht viel mehr, um uns dazu zu bringen, tief in die Tasche zu greifen und Hunderte (wenn nicht gar Tausende) von Euro für vierzehn Tage dieses Glücks auszugeben. Aber diese Fotos zeichnen kein genaues Bild des tatsächlichen Reiseziels - es ist eine verdichtete und idealisierte Vorstellung, die jede Form von Elend oder Not, jede Form von Industrie, Vorstadt oder Spuren der kolonialen Vergangenheit ausblendet, die neben dem Traum aus Sand, der auf dem Spiel steht, sichtbar sein könnten.

Schauplatz der diesjährigen ANTHROPOZÄNTA ist das ehemalige Reisebüro Thomas Cook. Nach dem Konkurs wird nun genau dieser Ort als Händler anderer Welten wieder zum Leben erweckt, wenn auch auf den Kopf gestellt und auf links gedreht. Eine Sache, die uns das Jahr 2020 gelehrt hat, ist, dass die unmittelbare Umgebung, der Ort, den Sie als Ihr Zuhause betrachten, eine hervorragende Reisegegend ist. Selbst, oder besser gesagt, gerade die weniger glamourösen Seiten Ihrer Stadt bieten faszinierende und zu Herzen gehende Geschichten, die ein vielschichtiges Verständnis dessen vermitteln, was dieser Ort, den wir Heimat nennen, ausmacht.

Diese Ausstellung ist eine Reise durch eine Reihe von übersehenen und etwas vergessenen Orten in und um Hof. Die Tour führt zu realen und fantastischen Orten. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass die Ausstellung wie ein alternativer Reisekatalog gesehen werden kann, wie eine der dicken Papierbroschüren zu Zeiten des Thomas Cook Reisebüros. Diese Ausstellung ist jedoch ein realistischerer Führer, denn sie zeigt auch die andere Seite, die weniger attraktive Seite eines Ortes mit seinem industriellen Erbe, seinen leerstehenden Gebäuden und seiner Arbeitslosigkeit. Wenn Sie mich fragen, ist es genau diese unspektakuläre, aber lebensnahe Darstellung, die sie so sympathisch macht. Ich glaube, ich könnte mich in dieser Stadt im Nordosten Oberfrankens mit ihrem austauschbaren Namen zu Hause fühlen.

ANTHROPOZÄNTA wurde 2013 gegründet. Der Name leitet sich vom Begriff des Anthropozäns ab - ein Wort, das ein neues geologisches Zeitalter beschreibt, in dem der Mensch wesentliche Spuren auf unserem Planeten hinterlassen hat - und bezieht sich gleichzeitig auf die documenta, die alle fünf Jahre in Kassel stattfindet. Auf ihrer Website wird die documenta als "Versuch, Deutschland nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wieder in den Dialog mit dem Rest der Welt zu bringen und die internationale Kunstszene zu vernetzen" beschrieben. Auf den ersten Blick scheint es mir ein ehrgeiziges Unterfangen zu sein, eine Veranstaltung nach einer der berühmtesten Veranstaltungen der westlichen Kunstwelt zu benennen, aber den Grundüberlegungen nach zielt ANTHROPOZÄNTA tatsächlich darauf ab, dasselbe auf einer Mikroebene zu tun - einen Dialog zwischen der Stadt Hof und der Welt zu initiieren und eine Verbindung zur breiteren Kunstszene herzustellen.

Es ist nicht das erste Mal, dass ich in Hof bin. Was ist Ihre Verbindung hierher? Wohnen Sie hier? Sind Sie auf der Durchreise? Ah, Sie besuchen die Internationalen Hofer Filmtage. Wie schön für Sie! Die vier Künstler*innen, die zu dieser Ausgabe der ANTHROPOZÄNTA eingeladen wurden, hatten im Sommer die Möglichkeit, hier einen zweiwöchigen Recherche-Aufenthalt zu verbringen. Während dieser Zeit hatten Sie Gelegenheit, das Gebiet zu erkunden, mit den Einheimischen zu sprechen und Überlegungen darüber anzustellen, wie sie künstlerisch auf die Besonderheiten des Ortes reagieren könnten. Es war eine bewusste Entscheidung des Kurator*innenteams, vier internationale Künstler*innen einzuladen, die nicht aus der Region stammen. Manchmal kann der Blick von außen ein enormer Vorteil sein. Dadurch kann der Prozess der Identifizierung und Offenlegung von Eigenheiten eines Ortes auf eine Weise gefördert werden, die frei von Vorurteilen und bitteren Gefühlen ist. Die bereits erwähnte angestrebte Konversation mit der Welt jenseits von Hof ist fester Bestandteil dieser Konstellation: nicht nur die entstandenen Kunstwerke initiieren einen Dialog zwischen der Stadt und dem Rest der Welt, sondern auch die Anwesenheit der Künstler*innen und das Eintauchen in das hiesige Leben während ihrer Arbeitsphase, führten zu einem Austausch.

Wenn ich von Austausch spreche, dann meine ich das im wahrsten Sinne des Wortes. Die Künstler*innen kommunizierten mit Einwohnern aller Art. Die Künstlerin Sanna Reitz interessierte sich besonders für die nicht-menschlichen Bewohner*innen von Hof. Trotz der vielen leerstehenden Gebäude sind die Immobilienpreise unerreichbar hoch. Können wir vielleicht, indem wir von der Lebensweise anderer Spezies lernen, Unterschlupf jenseits der standardisierten Art und Weise finden? In zwei neu entwickelten Performances bezieht sich Reitz auf den Webervogel, der sein Nest durch das Zusammennähen von Pflanzenblättern mit seinem Schnabel und Spinnweben baut. Und was ist mit der unkonventionellen Form der Untermiete, wie sie von Schwalben praktiziert wird? Mit ihren sorgfältig angelegten Nestern aus Erde und Lehm unter den Dächern der Menschen, haben sie einen Weg gefunden, die monatliche Miete zu umgehen, auch wenn es nur für einen Teil des Jahres ist, bevor sie wieder in wärmere Regionen ziehen.

Es ist mir bewusst, dass Unternehmen wie Thomas Cook unseren Blick auf das Reisen in den buntesten Farben geprägt haben. Aber keine Sorge, ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, dass die Kunstwerke in dieser Ausstellung alle romantischen Konnotationen dekonstruieren werden, die Sie vielleicht noch mit der Idee des Unterwegsseins verbinden. Genau das ist es, was die Künstlerin Shabnam Chamani anspricht. Nach ihrer Ankunft in Deutschland lebte sie und ihre Familie vorübergehend in mehreren Flüchtlingslagern, darunter die Asylunterkunft „Am Schollenteich 6“, die noch heute besteht. Dieser persönliche Bezug motivierte sie, die aktuelle Situation zu recherchieren und bewegte sie dazu, die Menschen zu treffen, die sich heute in Hof für Flüchtlinge einsetzen. Auf den Spuren ihrer Vergangenheit verwebt Chamani in ihrem Werk Begriffe wie Vertreibung mit familiären Verstrickungen und spielt dabei skulptural mit der lokalen landwirtschaftlichen Kulisse.

Unser nächster Halt ist das Dorf Mödlareuth nahe Hof. Während seines Sommeraufenthalts in Hof fiel dem Künstler Michael Dignam die physische Barriere auf, die hier während des Kalten Krieges errichtet wurde. Er dokumentierte die Überreste des Eisernen Vorhangs mit Super-8-Filmen, was zu dieser Zeit strengstens verboten war. Das, was auf unserer bisherigen Reise nicht greifbar und metaphorisch war, wird nun konkret und unbestreitbar. Beobachtungen zum Thema Einschränkung stehen auch im Mittelpunkt der Arbeit des Künstlers Francis Almendárez. Die Warenzirkulation passiert global ohne Einschränkungen, Menschen haben dieses Recht jedoch nicht. Warum dürfen sich Kleider, wie ein paar Jeans, ohne Beschränkungen bewegen, ich aber darf das nicht? Es scheint, dass sich Waren und Menschen nach unterschiedlichen Gesetzen bewegen. Das Werk von Almendárez, das auf seinen internationalen Luftfracht-Paketen ausgestellt wird, kritisiert die widersprüchliche Natur der globalen Warenzirkulation. Hatte ich Ihnen nicht versprochen, dass diese Ausstellung sich von einer standardisierten Vorstellung des Reisens, wie sie uns von den Reisebüros vermittelt wird, entfernen würde?

Angesichts von Einschränkung, Trennung und Verlust ist das Leben eine Übung darin, herauszufinden, was einen mit anderen Menschen verbindet, und sich dem mit Elan, Sorgfalt und Großzügigkeit zu nähern. Wenn Sie mich fragen, betrachte ich diese Ausstellung als eine vielstimmige Erzählung über das Begehen von unbekannten Pfaden und das Verirren, über das Loslassen und das sich Wiederfinden, von Ort zu Ort.

Alles Gute, Eline.

https://elinekersten.com


An exhibition text by Eline Kersten, October 2023

Dear traveller,

I recommend you to pack light. The journey won’t cover a long distance, however for your own convenience, I advise you to wear comfortable clothing and to have a bottle of water at hand – you might end up spending a while in this place. Putting your phone and smartwatch out of reach will also improve your personal experience. I only want to create the best conditions for your journey: time is of no importance. Next up, I would like to bring your attention to the here and now. Thoughts considering grocery lists, your faint back pain and emails to be sent may now be abandoned – any aspects dealing with the future or the past are of no use and might derail this tour.

Travel agencies sell depictions of felicity. In meticulously composed brochures, this form of happiness is often represented through bright pictures of deserted beaches and palm trees accompanied by azure blue seas. It doesn't take much more to make us dig deep into our pockets, spending hundreds (if not thousands) of euros for a fortnight of this happiness. But these photos do not sketch an accurate picture of the actual destination – it is a condensed and idealised image leaving out any form of misery or hardship, any form of industry, suburb or traces of the colonial past that might be visible next to the sandy dream at stake.

The locale of this year’s ANTHROPOZÄNTA is the former travel agency Thomas Cook. After its bankruptcy, this very location as a merchant of other worlds is now brought back to life, albeit upside-down and inside-out. One thing the year of 2020 has taught us, is that your direct surroundings, the place you consider to be home, offers excellent travel territory. Even, or should I say, exactly the less glamorous sides of your town prove to bear intriguing and heartfelt stories, bringing a multilayered understanding of what this place we call home is.

This exhibition is a journey through a number of the overlooked and somewhat forgotten places in and around Hof. The tour will cover actual and imaginative locations. I might go as far as to say that the exhibition can be seen as an alternative travel catalogue, like one of those hefty paper brochures you might have encountered in the days Thomas Cook still inhabited this very place. But this exhibition is a more realistic guide, because it also shows the other side, the less appealing side of a place with its industrial heritage, its vacant buildings and its unemployment. If you ask me, it is exactly this unspectacular yet true-to-nature depiction that makes it so relatable. I think I could feel at home in this peripheral town with its interchangeable name.

ANTHROPOZÄNTA was established in 2013, its name derived from the term the Anthropocene – a word describing a new geological age in which humans have left substantial marks on our planet – while simultaneously referring to documenta, the quinquennial art manifestation in the city of Kassel. On its website, documenta is described as an “endeavour to bring Germany back into dialogue with the rest of the world after the end of World War II, and to connect the international art scene”. At first, it seems to me like an ambitious exercise to name your event after one of the most renowned manifestations in the Western art world, but if I bring it back to its basis, fundamentally, ANTHROPOZÄNTA is indeed aiming to do the same on a micro level – to instigate a dialogue between the city of Hof and the world beyond, as well as to connect with the wider art scene.

It’s not the first time I’m in Hof. What is your connection? Are you living here? A passer-by? Ah, you’re visiting the Internationale Hofer Filmtage. Good on you! The four artists that were invited to this edition of ANTHROPOZÄNTA had the chance to stay here during a two-week residency period over summer. This time enabled them to explore the area, speak with locals and gather thoughts on how to artistically respond to the specificities of the site. It was a conscious decision of the curatorial team to ask four international artists who are not from the region. Sometimes, having an outside perspective can be a tremendous advantage. It can foster the process of identifying and laying bare the idiosyncrasies of a place in a way that is free from any biases or hard feelings. The aforementioned aspired conversation with the world beyond Hof is inherently part of this constellation: it is not only the resulting artworks that initiate a dialogue between the town and the rest of the world, it is also the presence of the artists and the process of immersing themselves in life here during their working period that evoked an exchange.

When I talk about exchange, I mean that in every sense of the word. The artists communicated with local inhabitants of every kind. Artist Sanna Reitz took a special interest in the more-than- human inhabitants of Hof. Despite the abundance of vacant buildings, house prices are sky high. Can we seek refuge in less standardised ways, learning from the ways of local species? In two newly developed performances, Reitz draws on the tailorbird that builds its nest through sewing and stitching together plant leaves using its beak and spider webs. And what about the unconventional form of subletting as is performed by swallows? With their carefully created mud- nests located under rooftops, these subtenants found a way to bypass monthly rent, even if it’s just for a part of the year before they migrate again to warmer regions.

I am aware that enterprises like Thomas Cook have shaped and coloured our view on travelling. But don’t worry, I am happy to announce that the artworks in this exhibition will deconstruct any romantic connotations you might still carry with you towards the idea of being on the go. That is exactly what artist Shabnam Chamani taps into. Upon arrival in Germany, she and her family temporarily stayed in several refugee camps, including the camp Am Schollenteich 6, which still exists to this day. This personal connection motivated her to research the current situation and moved her to meet the people who are supporting refugees in Hof today. Retracing her past, Chamani’s work finely interweaves notions of displacement with family intricacies, whilst sculpturally playing with the local agrarian mise-en-scène.

Our next stop is the neighbouring village Mödlareuth. Whilst residing in Hof over summer, artist Michael Dignam was struck by the physical barrier that was erected here during the Cold War. He documented the remains of the Iron Curtain using super-8 film, an act that was strictly forbidden during that time. That what has been intangible and metaphorical on our journey so far, now becomes concrete and undeniable. Observations around restriction are also at the heart of the work by artist Francis Almendárez. Objects can circulate the globe without constraints, but people can’t. Why does my pair of jeans have freedom of movement, but I do not? It seems that commodities and people move with different rules. Showcased in its international parcel, the work by Almendárez critiques the contradictory nature of global commodity circulation. Didn’t I promise you this exhibition would move away from a standardised idea of travelling as is instilled upon us by travel agencies?

Faced with restriction, separation and loss, life is an exercise in finding what binds you to others and approaching that with vigour, care and generosity. If you ask me, I think of this exhibition as a polyphone narrative about following paths and getting lost, about letting go and finding yourself again, from place to place.

All my best, Eline

https://elinekersten.com